Zum elften Mal stehe ich Samstagmorgens kurz vor 6.00 Uhr am Rande des Göttinger Stadtwaldes und warte auf den legendären Startruf von Markus Ohlef. Endlich ist es wieder Februar, endlich laufe ich wieder von Göttingen auf den Brocken.
Dieses Mal bin ich ziemlich entspannt und habe gar kein Lampenfiber, obwohl ich mich für einen 80-Kilometer-Lauf vollkommen unzureichend vorbereitet habe. Seit Anfang Dezember bin ich nur eine überschaubare Anzahl an Kilometern gelaufen, fühle mich aber gewappnet. Mein Körper weiß mit den läuferischen Herausforderungen umzugehen und unterwegs muss ich sowieso für die Unvorhersehbarkeiten Lösungen finden.
Da ich dieses Mal nicht im Duo mit Michael (www.suedkreislaeufer.de) unterwegs sein werde – Michael war in der Woche, in der man sich um einen Startplatz bewerben kann, im Urlaub – stand die Frage im Raum, welche Renntaktik ich mir zurechtlegen sollte. Sollte ich versuchen, unter elf oder gar zehn Stunden zu laufen? Naja, dachte ich, wichtig ist es, über die ambitionierte Strecke gut ins Ziel zu kommen und einen erlebnisreichen Tag zu haben – da ließ ich die eigene Zeitvorgabe einfach außen vor. Stattdessen wollte ich die Zeit an den acht Verpflegungspunkten optimieren: sechsmal möglichst kurz anhalten und nur etwas Warmes trinken, dafür aber an den Stationen Barbis (nach 42,5 Kilometer) und Lausebuche (nach 64,1 Kilometer) die Klamotten wechseln und etwas Warmes essen.
Mit den anderen 169 Läuferinnen und Läufern geht es durch den Göttinger Stadtwald. Hier sind alle noch nah beieinander. Die Schnelleren von ihnen sind bald außer Sichtweite, die Langsameren finden genauso ihr Tempo. Und wo bin ich selbst? Mittendrin! Im Vergleich zu den anderen Jahren, immerhin ist es ja bereits mein elfter Start bei der Brocken-Challenge, sind recht viele Gesichter dabei, die ich bisher nicht wahrgenommen hatte. Leider waren dieses Jahr auf den Startnummern keine Namen und auch keine Kennzeichnung für die Anzahl der BC-Teilnahmen, so dass sich wenig Orientierung bot, mit wem man es zu tun hatte. Ich hoffe sehr, dass das nächste Mal wieder funktioniert!
Es läuft die ersten 20 bis 30 Kilometer bei mir recht gut. Ich versuche effizient die Kraft einzuteilen, indem ich an einigen Steigungen schneller gehe, statt langsamer zu laufen. Das spart schon früh Kraft. Nach genau 4:44 Stunden habe ich bereits die Marathon-Strecke hinter mir und chatte ein bisschen mit ein paar heimischen Ultralauffreunden. Augenscheinlich habe ich einen guten Tag erwischt, dass ich mir dafür die Zeit nehme…
Nun steht der Harz vor der Tür. Gleich nach der Station geht es ein paar steile Meter hoch, danach kommen ein paar wenige Kilometer leichter Steigungen. Im Wald oberhalb von Bad Lauterberg kommt dann das gefühlt ewige Gekurve durch den Wald (oder auch nicht, denn die heißen Sommer haben hier viele baumfreie Zonen entstehen lassen). Entsaftend geht es hoch zum Jagdkopf und weiter bis zur Lausebuche. Laufen und schnelles Gehen, unterstützt durch Stöcke, bringt mich gut voran.
Da ich mich bereits Donnerstag und Freitag vor der BC ernährungsmäßig wohl gut versorgte und unterwegs sehr regelmäßig gegessen und getrunken habe, funktioniert alles super. Bei meinen beiden letzten Ultraläufen im Januar 2023 (Sumema, 68 Kilometer) und im September letzten Jahres (Sunriserock, 90 Kilometer) hatte ich nach ca. 35 Kilometern und bei Streckenkilometer 55 starke Krisen. Mein Körper wollte mich davon überzeugen, dass er in keinster Weise bereit ist, lange Strecken zu laufen. Über diese Punkte kann ich während eines Laufes gut hinwegkommen. Aber bei der diesjährigen BC gab es sie gar nicht. Ich war zwar zwischendurch etwas angeschlagen – logisch, es fehlten ja Vorbereitungskilometer –, aber das ich krisenfrei laufen konnte, das war schon sehr außergewöhnlich!
Zum guten Unterwegssein gehört auch, dass ich begleitet werde. Eigenen Support an den Stationen haben zu können, ist recht komfortabel. Ohne diese Unterstützung meines Freundes Stephan (und normalerweise ist auch mein Sohn mit dabei, der dieses Jahr aber verhindert war), wäre es sicherlich etwas schwieriger, alles hinter sich zu bringen. Nach der Zielankunft auszuruhen, dann noch mal die acht Kilometer vom Brocken runter nach Torfhaus zu laufen, gemeinsam wieder nach Hause zu fahren und den Tag Revue passieren zu lassen, ist einfach Gold wert. Danke!
Die Brocken-Challenge findet bekanntlich Anfang Februar statt. In hiesigen Breiten ist damit zu rechnen, dass Winter ist, es also durchaus sein kann, dass es schneit und Minusgrade zu erwarten sind. In den elf Jahren meiner Teilnahme an der BC gab es sehr unterschiedliche Witterungsbedingungen: sehr viel, wenig oder gar keinen Schnee, fehlenden, leichten bis sehr starken Wind, feuchte Diesigkeit und sogar herrlichen Sonnenschein. In der Regel kann ich mich auf das Wetter gut einstellen, so auch dieses Mal – dachte ich. Angekündigt waren in Göttingen ca. zehn Grad über Null und leichte Regenfälle. Für den Brocken später vermehrt Regen, starke Winde und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.
Bis Barbis konnte ich mit meiner Ausrüstung dem leichten Regen gut begegnen. Ab Barbis regnete es recht häufig und ab dem Jagdkopf kam dann auch noch der heftiger werdende Wind dazu. Da ich bereits ab ca. zehn Grad (über Null) Handschuhe trage, war dies eine besondere Herausforderung. Meine Handschuhe waren recht schnell durchnässt; ich konnte sie auf dem Weg zur Lausebuche mehrfach auswringen, so nass wurden sie. Logisch, dass meine Finger sich überhaupt nicht wohl fühlten. Ich wechselte zwar noch zweimal die Handschuhe, aber das half recht wenig. Der Regen und die (Windes-) Kälte hatten sich gegen mich verschworen. Ich hatte so kalte Finger, dass ich meine Stöcke kaum noch festhalten konnte.
Der letzte Kilometer vor dem Ziel gestaltete sich als besonders. Der Wind hatte derart zugenommen, dass es wohl fast schon orkanartige Böen waren, die mir entgegenkamen und das Ins-Ziel-Kommen schwierig gestalteten. Mit schwankenden Schritten kam ich nach 10:42 Stunden (altersbereinigt wären ich sogar knapp unter neun Stunden gelaufen…) als 44. ins Ziel und wurde von dort in den Goethesaal geleitet.
Dass mir die Bedingungen der letzten vier Stunden ab dem Jagdkopf zusetzten, merkte ich erst jetzt. Ich war deutlich unterkühlt und benötigte ca. eine Stunde, bis ich wieder einigermaßen warm wurde und das Zittern aufhörte. Anderen ging es deutlich schlechter. Die vier Sanitäterinnen und Sanitäter im Ziel hatten sehr viel zu tun, um unterkühlte Läuferinnen und Läufer erstzuversorgen. Einige von ihnen mussten dann mit dem Wagen vom Brocken heruntergebracht werden, da es ihnen nicht zuzumuten war, den Weg vom Brocken zurück nach Oderbrück in Angriff zu nehmen. In all den Jahren davor war das in dieser Ausprägung nicht der Fall.
Nun bin ich mit meinen zehn Zielankünften Mitglied im 19-köpfigen Jubilee-Club der Brocken-Challenge, zu dem alle gehören, die mehr als zehnmal gefinisht haben. Das ist schon recht coool, denn ich mag diesen Lauf einfach gerne. Es ist das nachhaltige soziale Konzept des Veranstalters, das seinesgleichen sucht. Es ist die Herausforderung, Anfang oder Mitte Februar von Göttingen bei häufig schwierigen Bedingungen auf den Brocken zu laufen.
Bestimmt war ich als Läufer schon mehr als 150-mal auf dem Brocken, doch jede Gipfelbelaufung ist anders als die davor. Das reizt nach wie vor – und ich freue mich, dass ich das immer noch kann.
Dieses Jahr konnte ich auf gute Beine zurückgreifen, hatte dann aber das Wetter gegen mich. Glücklicherweise half die jahrelange Erfahrung auf der langen Strecke, so dass bis auf die leichte Unterkühlung alles im Ultrarahmen war.
Nun verabschiede ich mich erst einmal temporär von den Ultra-(Trail)-Strecken und konzentriere mich auf Schwimmen, Radfahren und Laufen. Anfang Juni steht in Hannover der erste Triathlon auf der Tagesordnung – und wie es sich für jemanden mit Spaß an den langen Kanten gehört, wird es die Langstrecke sein, auf der die Premiere stattfinden soll.
Die Brocken-Challenge ist ein meist recht anspruchsvoller, winterlicher Wohltätigkeits-Ultra-Marathonlauf. Normalerweise werden ca. 80 bis 86 Kilometer und ca. 1.900 positive und 1.100 negative Höhenmeter von Göttingen auf den Gipfel des Brockens im Harz gelaufen. Alle Einnahmen, des Mitte Februar stattfindenden Ultralaufes werden zugunsten unterschiedlicher sozialer Projekte ausgeschüttet; am 18. Februar 2023 wurde die Brocken-Challenge bereits zum 19. Mal ausgetragen. In all den Jahren konnte bisher eine Spendensumme von ca. 370.000 Euro erlaufen werden.
Internetseite der Brocken-Challenge: www.brocken-challenge.de
Link zum Bericht der ersten Teilnahme: 64 von 80 | Meine Brocken-Challenge 7.2.2009
1 | Start der Brocken-Challenge pünktlich um 6.00 Uhr in Göttingen am Kehr
2 | Zwischenstopp nach ca. 30 Kilometern an der Rhumequelle
3 | Die Strecken-Kilometer 64 bis 80 waren in tiefem Schneematsch, auf nassen Eisplatten und durch eisiges Wasser zu laufen
4 | Stimmung auf dem Brocken – nebelig und sehr, sehr windig
5 | Brocken-Challenge 2012, als Guide für einen blinden Läufer (im Ziel nach 13:34 Stunden)
6 | Brocken-Challenge 2014, Obligatorisches Brockenstein-Foto
7 | Brocken-Challenge 2022 (revers), im Göttinger Ziel mit Michael Hartmann